Trauerrede für Christa Wolf
Ich weiß keinen Trost dafür, dass Christa Wolf nicht mehr lebt, außer dem, dass sie gelebt hat. Als sie zu ihrem 80. Geburtstag die an langer, üppiger Tafel sitzenden Gäste mit einer kleinen Rede willkommen hieß und zu jedem einige rückblickende Worte fand, war ich nicht darauf gefasst, was sie mir sagen würde. Nämlich dass in ihrem wahrlich großen Freundeskreis ich diejenige sei, die sie am längsten kenne. All die, mit denen Christa Wolf viel eher verbunden war, waren nicht mehr unter uns. Und wir begegneten uns sehr früh.
Ende 1965, nach einer lebhaften Diskussion mit Schülern zum Film Der geteilte Himmel in Kleinmach-now, unserem gemeinsamen Wohnort, sprach sich an meiner Mathematik-Spezialschule herum, dass Christa und Gerhard Wolf bei sich zu Hause einen Literarturzirkel anbieten. Wie viele hat damals ein solcher Vorschlag gereizt? Wir waren fünf, manchmal sechs. Gut zwei Jahre lang, in denen wir regelmäßig zusammenkamen, bei Tee und Keksen, vertraut, schließlich fast familiär. In einer Zeit, in der die junge Schriftstellerin mit den Folgen ihrer mutigen Rede auf dem berüchtigten 11. Plenum zu kämpfen hatte und an Christa T. schrieb, hat sie auch noch die Mühe mit uns Nichtsnutzen auf sich genommen.
Es muss eine Mischung aus Neugier und pädagogischer Sorge gewesen sein, darüber, dass die Jugend nicht wisse, „wozu sie lebt, wozu sie hier lebt“, wie sie in jener Rede gewarnt hatte. So lernten wir früh: Literatur ist (im Gegensatz zur Mathematik) dazu da ist, das Ich zu stärken. Wir begaben uns mit Wolfs gern auf Anna Seghers Ausflug der toten Mädchen, ließen dann aber durchblicken, dass wir mehr über ungedruckte sowjetische Lyrik erfahren wollten oder über Kafka, der gerade erschienen war oder über Freud und Camus, die gerade nicht erschienen waren.
Im Frühling 1968 gehörte ich mit Christas und Gerhards Tochter Annette zu einem Grüppchen von Schülern, die, wegen einer Dubček-freundlichen Wandzeitung in heftige Schwierigkeiten gerieten. Da solche Ideen nicht aus dem Unterricht stammen konnten, wurden Eltern verdächtigt, hinter der Idee zu stecken – was nicht stimmte. Zu der Zeit hing die Druckgenehmigung für das inzwischen längst abgeschlossene Manuskript Christa T. am seidenen Faden – jeder zusätzliche Konflikt kam ungelegen. Dennoch haben die Wolfs uns gegen die Angriffe verteidigt. Seither wusste ich, dass man sich auf ihren menschlichen Beistand unbedingt verlassen konnte – ein Grundgefühl, das sich für mich wie für viele andere immer wieder bestätigt hat.
Schließlich zogen wir den beiden nach Mecklenburg hinterher, ihr Haus nur einen Hohlweg entfernt. Tages Arbeit, abends Gäste. Ein Anlass fand sich immer. Als die erste Rose aufblühte, lud Christa eben zum improvisierten „Fest der Rose“. Doch keine Idylle, nirgends – das wird in Sommerstück beschrieben.
Damals wurde die für ihre psychosomatischen Reflexionen bekannte Autorin von Gynäkologen zu einer Tagung über Psyche und Frauenleiden eingeladen und gebeten, einige Kolleginnen mitzubringen, weil sie sich von Schriftstellerinnen eine größere Offenheit versprachen. Daran ließen wir es nicht fehlen – es war ein anregendes Wochenende. Danach fragte uns Christa, ob es nicht noch offener zugehen könnte, wenn wir ohne Gynäkologen über unsere Angelegenheiten reden würden. Das war, im Herbst 1985, die Geburtsstunde unserer Weiberrunde. Seit mehr als einem viertel Jahrhundert treffen sich seither zehn Autorinnen einmal im Monat, um ohne Öffentlichkeit, in einem geschützten Raum, aus Manuskripten zu lesen, zu kochen und gegen die Vergeblichkeit anzureden.
Wir widersprachen uns ohne zu verletzen; und waren uns einig. Etwa darüber, dass vor die Wahl gestellt, zu lieben oder zu schreiben, Frauen sich eher gegen die Kunst entscheiden. Christa Wolf jedenfalls hat sehr früh beschlossen, nicht auf Kosten des Lebens zu schreiben. Wie sie überhaupt überzeugt war, dass Frauen „weniger eingeübt in die Techniken der Anpassung und der Abtötung der Gefühle“ sind. Es mochte Zufall sein, aber die erste Protestresolution des Schriftstellerverbands gegen die erstarrten Gesellschaftsstrukturen wurde in unserem Kreis formuliert. Christa Wolfs Rede vom 4. November 1989 hat sie am Vorabend bei uns probegelesen. Hier berichteten wir auch von unser beider monatelanger Arbeit in der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR. Und wir diskutierten die von ihr sehr präzis formulierte Präambel für den Verfassungsentwurf des Runden Tisches, in der noch ein letztes Mal „revolutionäre Erneuerung“ angemahnt wurde.
Die bald einsetzende Hexenjagd gegen Christa Wolf, das wusste wir, hatte weder mit ihrer Vergangenheit, noch mit ihren Büchern zu tun, sondern mit ihrer störenden Gegenwart, in der eine moralische Leitfigur nicht davon abließ, alternatives Gedankengut in die Vereinigung einbringen zu wollen. Solch exorzistische Rituale, wie die, denen sie unterzogen wurde, kann niemand unbeschadet überstehen. In den Folgejahren habe ich sie mehr als einmal vergeblich beschworen, sich mit ihrer nach wie vor unverzichtbaren Stimme wieder hörbarer einzumischen. Christa Wolf hat die ihr verbliebene Kraft in das wunderbar souveräne Vermächtnis ihres letzten Buches gesteckt.
Bei unserem letzten Telefonat, als ich spürte, wie schwach und resigniert sie ist, fragte ich verzweifelt, womit ich sie denn aufmuntern könne. „Na du“, sagte sie und ich hörte trotz allem das Augen-zwinkern, „du mach mal´n bisschen Revolution“. „Wenn weiter nichts ist“, zwinkerte ich zurück.
In unserer Weiberrunde haben wir auch über den Tod gesprochen. Ich erinnere mich gut, wie ich uns, allesamt Atheistinnen, einmal die Frage zumutete, ob wir denn sicher sein könnten, dass dieser offensichtlich unvollkommene Mensch tatsächlich die höchste Form der organisierten Materie ist. Ob denn gänzlich auszuschließen sei, dass da eine, von unserem auf den farbigen Abglanz beschränkten Denkapparat nicht voraussehbare, Überraschung auf uns warte. Ungeahnt vehement fiel Christa ein, sie sei sich da auch überhaupt nicht sicher.
Noch einmal hat sich der Himmel geteilt und nichts verraten.