Ungehaltene Wahlkampfrede 7.9.05 WDR 1

Ungehaltene Wahlkampfreden
Die Zukunft des Sozialstaates – oder:
Der Sozialstaat ist nur in einer Sozialwelt zu retten

Der Sozialstaat, der sich in den Zeiten der Systemkonkurrenz so bewährt hat, versagt nach dem Sieg der eigenen Seite. Steht er auf der Kippe oder ist er schon gekippt? Geht es nicht der Mehrheit immer noch sehr gut, sind nicht immer noch nur Minderheiten betroffen? Gern reden wir uns das ein, hat sich doch eine Ahnung in uns erhalten über einen verhängnisvollen Zusammenhang: Es geht vielen Leuten nur deshalb recht gut, weil es noch mehr Leute gibt, denen es recht schlecht geht.
Folgt man der EU-Definition, ist Deutschland nicht mal mehr eine Zweidrittelgesellschaft. Fast 14 Prozent der Bevölkerung leiden unter Einkommensarmut von weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens. 35 Prozent leben mit Niedrigeinkommen von weniger als 75 Prozent des Durchschnitts. Das heißt, die Hälfte der Bevölkerung lebt in „relativer Armut“, muss also jeden Cent umdrehen.
Armut steht im Widerspruch zum Verfassungsgebot, jedem Bürger ein menschenwürdiges Dasein im Sinne der Teilhabe am normalen gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. In welchem Maße ist also die sozialstaatliche Verfassung der Bundesrepublik noch intakt?
Im Grunde geht es um die Frage, wie der arbeitende und Arbeit verwaltende, also der bestimmende Teil der Bevölkerung mit dem immer größer werdenden Teil umgeht, der nicht arbeiten, verwalten, also bestimmen darf. Es ist ein Verteilungskampf zwischen Arbeitenden und Nichtarbeitenden, bei dem letztere ohne Kampfmittel dastehen. Unter der angeblich gemütlichen, „sozialen Hängematte“ klafft besonders für Langzeitarbeitslose nur noch der Abgrund. Ein Gespenst lauert hinter der Einkommensarmut: die Chancenarmut.
Politiker, gewohnt ihren Sozialabbau als alternativlos darzustellen, zeigen wenig Neigung, sich von den Bürgern in die angeblich enger gewordenen Verteilungsspielräume hineinreden zu lassen. Verschleiert wird: der Staatshaushalt gehört nicht den Staatsmännern. Die Staatsdiener sind nur wechselnde Verwalter des Volksvermögens. Das jährliche Volkseinkommen ist der Haushalt des Staates.

Demokratie bedeutet auch Entscheidung über Haushalte. Wenn die Demokratie nicht die Wirtschaft erfasst, ist sie keine.
Denn es gibt auch so etwas wie Chancenreichtum: Nach einer Top-100-Liste des manager magazins gab es in Deutschland im Frühjahr 2001 95 DM-Milliardäre. Hinzu kommen 13000 Einkommensmillionäre, die allermeisten von ihnen sind Unternehmer, und 1,5 Millionen Vermögensmillionäre. Das sind 700% mehr als Ende der 70er Jahre. Die Kinder dieses Geldadels sind an den Universitäten und unter den aufsteigenden Eliten überproportional vertreten. Kariere kostet. Eigentümer in Deutschland besitzen inzwischen Geldvermögen in Höhe von 2,7 Billionen € und Immobilien im Wert von 3,8 Billionen €. Mit Appellen an die Solidarität ist da kein herankommen.
Wer an dem bestgehütetem Tabu der historisch einmaligen Reichtumsexplosion in den vergangenen fünfzehn Jahren, also seit Untergang des Sozialismus, rührt, dem wird umgehend Neid unterstellt. Dass es ein ehrenhaftes Motiv für eine solche Debatte geben könnte, wird ausgeschlossen. Deshalb vorab: Reichtum ist eine Annehmlichkeit, die jedem vergönnt sei, selbst wenn sie ungleich verteilt ist. Inakzeptabel wird es erst, wenn der Reichtum der einen die Armut der anderen bedingt, also verschuldet. Wenn beide gleichermaßen wachsen. Der Reichtum wird asozial, wenn er nicht mehr nur ein moralisches, sondern ein volkswirtschaftliches Problem ist. In Deutschland wächst der Reichtum seit Jahren deutlich schneller als die Wirtschaft. Noch schneller wachsen nur die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung. Die Steuerzahler müssen aber nicht nur für die enormen Zinsen aus dieser Schuld aufkommen. Sie arbeiten auch für die Zinsen und Renditen der Kreditgeber und Aktienbesitzer, denen ein überproportionaler Anteil aus dem Volkseinkommen zufließt. Wenn die Einkommen aus Geldvermögen über der allgemeinen Wirtschaftsleistung liegen, müssen die Einkommen aus Arbeitsvermögen zwangsläufig darunter liegen. Das heißt, die Arbeitenden sind an dem Ergebnis ihrer Wertschöpfung immer weniger beteiligt. Das verfügbare Einkommen der abhängig Beschäftigten ist in den letzten fünfzehn Jahren bestenfalls gleich geblieben, während sich die Einkommen aus Vermögen verdoppelt haben. Wie konnte dies beinahe unbemerkt geschehen?
Der Zinsdruck zwingt nicht nur den Staat zum Sozialabbau. Auch die Manager, die die Gewinnerwartungen der Besitzenden erfüllen müssen, senken zu diesem Zweck die Löhne und investieren Subventionen und Steuergeschenke in Rationalisierung, damit sie noch mehr Leute entlassen können. In Zeiten derartiger Arbeitslosigkeit ist nur arbeitsloses Einkommen ein sicherer Schutz vor sozialem Abstieg. Um einen Kollaps zu vermeiden, müsste dem Kapital begreiflich gemacht werden, dass seine Zinsansprüche das Wirtschaftswachstum nicht überschreiten dürfen! Da Kapital aber nur einen Gedanken kennt, droht es mit Abwanderung und die neoliberale Politik ordnet ihr ganzes Trachten dem Zweck unter, die Renditeansprüche der Vermögenden zu garantieren.
Das Defizit liegt weniger im Konzeptionellen, als vielmehr in der demokratischen Durchsetzbarkeit dessen, was als vernünftig erkannt ist. Spätestens seit Rousseau ist zumindest die Richtung klar: „Die Menschenrechte müssen ergänzt werden durch einschränkende Bestimmungen über das Eigentum; sonst sind sie nur für die Reichen da, für die Schieber und Börsenwucherer.“ Das Problem solcher Forderungen ist nicht, dass sie alt, sondern dass sie unerfüllt sind. Doch im Zeitalter des kommerzialisierten Medienkretinismus wird es immer schwerer, Mehrheiten über kapitale Lobbyinteressen aufzuklären und sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Die meisten glauben an die marktradikalen Spekulanten wie Kinder an den Weihnachtsmann. In einer Art Duldungsstarre wird die Katastrophe durch Trägheit und Ignoranz selbst heraufbeschworen.
Die Arbeit des Desillusionierens kann nicht früh genug beginnen: Die Demokratie braucht eine andere Wirtschaftsordnung. Genauer gesagt, die Menschen brauchen sie. Selbst die Eigentümer und Manager. Denn nur Fundamentalisten, stets auf der Suche nach dem dämonisch Bösen, übersehen, dass auch diese politischen Gegner hoch bezahlte Gefangene der von ihnen selbst geschaffenen strukturellen Zwänge sind. Die Jagd nach dem shareholder value, nach der international geforderten Rendite, macht sie zu Gehetzten auf der Flucht vor feindlichen Übernahmen. Der Maximalprofit verlangt absoluten Gehorsam, sonst stoßen einen Gehorsamere in den Abgrund.
Das kämpferische Vokabular hat die Seiten gewechselt.
Zu Revolten und Aufständen, zu Boykott und aktivem Widerstand rufen wohl situierte Leute auf die Barrikaden. Neoliberale gründen einen Konvent und anempfehlen den Bürgern eines Staates, der Geld für Sozialleistungen vergeudet, einen gewissen Konsumverzicht und ein Zurückstecken von Ansprüchen. Stattdessen wird unternehmerisches Handeln und eine intensivere Vermögensbildung angeraten, denn: Arbeitsplätze erfordern nun mal Kapital. Unerwähnt bleibt all das derzeit bereits vagabundierende Kapital, dem offenbar nicht im Traum einfällt, Arbeit zu schaffen. Industrielle wollen die Unbeweglichkeit politischer Entscheidungen flexibilisieren, also demokratische Mitsprache einschränken und nennen das Systemüberwindung. Das heißt, das System wird sowieso grundstürzend verändert, fragt sich nur noch wie und durch wen.
In der Demokratie ankommen heißt, gegen die Herrschaft des Geldes zu sein. Über den Wechsel von der asozialen Marktwirtschaft hin zu einer gemischten oder auch sozialistischen Marktwirtschaft, jenseits des Diktats der Weltbank, liegen ungezählte Bücher bereit. Sie sind vom Zeitgeist in Nischen gedrängt, wo sie von den entpolitisierten Mehrheiten nicht wahrgenommen werden. Ihre Autoren beschreiben eine Weltwirtschaftspolitik mit einer neuen Geldordnung, ökologisch nachhaltigen Preisen, einem neuen Bodenrecht, mit ehrlichen und gerechten Steuern, mit internationalen Sozialstandards, darunter eine weltweite radikale Arbeitszeitverkürzung, die uns der Vollbeschäftigung näher bringt.
Der Internationalismus war einst die Stärke der Linken. Er ist auf die Seite des Kapitals gewechselt. Fachleute aus allen Ländern versuchen eine Umkehr zu beschreiben, durch eine Weltinnenpolitik, mit Staatengemeinschaften, die sich mehr mit Verteilungs- als mit Wachstumsfragen beschäftigen. Dazu zitieren sie sogar Leute wie den Chef des Internationalen Währungsfonds, der warnt: Die extremen Ungleichgewichte in der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilität weltweit. Und sie fragen, worauf wir noch warten, wenn selbst der Economist, das Hausblatt der Finanzwelt, die Verteilungsfrage auf die Weltagenda setzt.

Übrigens:
Solange im Bundeshaushalt dreimal mehr Mittel für Rüstung als für Bildung und Forschung vorgesehen sind, scheint es mir auch um die Investitionen in die Zukunftsfähigkeit schlecht zu stehen. Eine öffentliche Rechenschaftspflicht der Regierung über die unausweichliche Notwendigkeit der Verwendung von Steuermitteln für Kriegsgerät und Angriffsfähigkeit wäre längst fällig. Solange dies nicht geschieht, wird die berechtigte Behauptung, hier lägen erhebliche staatliche Finanzreserven, nicht zu widerlegen sein.