Die Debatte: Wolfgang Schäuble und Daniela Dahn streiten über das Unverständnis zwischen Ost und West
Was war die DDR für Sie, Herr Schäuble?
Wolfgang Schäuble: Ich bin richtiger Südwestdeutscher, habe keine Verwandtschaft im Osten. Mit der DDR habe ich deshalb als junger Mensch den 17. Juni 1953 verbunden – und natürlich die Mauer. Später dann noch die Sporterfolge. Meine persönlichen Erlebnisse beschränken sich auf eine Wanderung über den Rennsteig. Da haben uns mal Freunde mit hingenommen, die Verwandte in Thüringen hatten.
Frau Dahn, was war für Sie denn die Bundesrepublik vor dem Mauerfall?
Daniela Dahn: Das war das Land, in dem Verwandte lebten. Vor dem Mauerbau sind wir öfter nach Bayern gereist, hatten sogar eine Weile dort gewohnt. Ich hatte ein Gefühl großer Fremdheit empfunden. Die Kinder in dem Mädchengymnasium fragten mich, ob wir drüben russisch sprechen, und ob ich Chruschtschow schon begegnet sei. Ich war heilfroh als wir zu-rückgingen, weil meine Mutter keine Arbeit fand. Und als die Mauer kurz danach stand, habe ich gedacht: So, da kann Dich jetzt keiner mehr hinschicken. So untypisch kann Leben sein.
Können Sie verstehen, dass Menschen etwas aus den alten Zeiten vermissen?
Schäuble: Ich glaube, das hängt mit einer nostalgischen Erinnerung an frühere Zeiten zusammen. In den Dörfern im Osten waren die Straßen noch um die Bäume herum gebaut, alles sah noch aus wie zu Großväterzeiten.
Dahn: Die Nostalgie vieler Ostdeutscher ist weniger auf die DDR gerichtet, als auf einen Traum vom Westen, der sich nicht erfüllte.
Alles wird besser. Aber nichts wird richtig gut – das ist ein Mauerspruch. Ist das Ihre Bilanz?
Dahn: Es ist nicht alles besser geworden, aber vieles normaler. Natürlich ist es richtig gut, wie viele Menschen jetzt reisen. Na-türlich sind die Städte sehr viel schöner geworden. Aber man muss auch fragen, wer ist hier eigentlich Hausmeister und wer ist Hausbesitzer. Da hat das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung viel Unheil angerichtet. Die ökonomische Bilanz ist ernüchternd. Wir hatten in Ostdeutschland in den letzten 18 Jahren ein durchschnittliches Wachstum von 1,6 % – das ist weniger als die Hälfte des Wachstums fast aller osteuropäischen Länder und auch in der DDR gab es keine solche Durststrecke. Man spürt am Lebensgefühl, dass dieses Land immer noch alimentiert werden muss. Hunderte von Milliarden an Transferleistungen, das hat auch etwas Demütigendes.
Schäuble: Das sehe ich erheblich anders, viel positiver: Die Gesichtsfarbe der Menschen ist eine andere geworden, die war früher grau. Die Statistiken sagen, dass sich die Lebenserwartung um sieben Jahre erhöht hat. Die Menschen gucken offener, die haben früher immer nur nach unten geschaut. Der Theologe Richard Schröder hat mal gesagt: Das Schlimmste war das Leben in der Lüge. Das ist weg.
Dahn: Die DDR ist auch deshalb untergegangen, weil sie die Kritiker des falschen Sozialismus wie Feinde behandelt hat, das stimmt. Dass deshalb alle mit gesengtem Kopf umher liefen, ist Unsinn. Auch ich habe mir erlaubt, mein Haupt zu heben – ein Leben mit Lügen, das wäre der Tod eines Autors.
Schäuble: Mit der Lüge habe ich nur Richard Schröder zitiert, der hat in der DDR ja nun mal gelebt. Was die Demütigung angeht: Das kann ich nachvollziehen. Aber es war nun mal der Wunsch der Menschen in der DDR, sich am westlichen Lebensstandard zu orientieren. Wir mussten Anfang 1990 die Währungsunion beschließen. Die Nachfrage nach Ostprodukten ist danach total zusammengebrochen. Lothar de Maiziere hat in einem Gespräch mit mir damals geklagt: Die Leute kaufen nicht mal mehr unsere Schrippen für fünf Pfennig, sondern die teuren West-Brötchen. Die Menschen sind so. Und in der Tat empfinden sie es heute immer noch als demütigend, dass das Lohnniveau nicht ganz eins zu eins ist…
Dahn: Es ist im Osten 30 Prozent niedriger. Und ich möchte Sie daran erinnern, wie wir die DDR zum Schluss übergeben haben. Sie war in dieser Zeit sehr basisdemokratisch, der innerste Zirkel der Repression war demokratischer Kontrolle unterworfen. Wir waren sehr selbstbewusst. Wir messen die Bundesrepublik an dieser Erfahrung, die wir selber erkämpft haben…
Schäuble: … und auf die wir im Westen sogar stolz sind.
Dahn: Wie schön. Aber inzwischen beobachte ich, dass der Anpassungsdruck in dieser Gesellschaft nicht kleiner ist, als er in der DDR war. Ich sehe im neuen Deutschland nicht weniger Lemminge, als es sie in der DDR gegeben hat. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat unlängst geschrieben, dass die verhaltens-prägende Kraft des Kapitalismus ungeheuerlich ist. Das Disziplinierungsmittel im Osten war die Ideologie, hier ist es der marktförmige Arbeitsmarkt. Was die Einführung der D-Mark angeht: Das Angebot kam zuerst von Helmut Kohl. Alle Fachleute hielten es für eine Wahnsinnsidee – gegen jede ökonomische Vernunft. Das Tempo ist aus Bonn weitgehend vorgegeben worden. Meine Erklärung dafür ist: Der Demokratisierungsdruck aus dem Osten begann schon den Westen zu ergreifen.
Schäuble: Wenn sie die Menschen vor die Wahl stellen, dann wählen sie in ihrer ganz großen Mehrheit das bessere materielle Angebot. Es gab die Ansätze, ja, aber es gab auch ganz am Schluss in der DDR freie Wahlen – und das Ergebnis vom 18.März ist doch eindeutig. Die Mehrheit hat sich für einen schnellen Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz entschieden. Den Respekt vor dieser demokratischen Mehrheit muss man auch haben.
Der Anpassungsdruck war ähnlich groß – Sie können das verstehen?
Schäuble: Die Neigung zur Konformität ist in unserer Gesellschaft auch groß. Doch der real existierende Sozialismus war ziemlich düster.
Dahn: Ja. Nicht zuletzt war auch die Umwelt belasteter. Aber wir haben heute andere Gesundheits-probleme: Hartz-IV-Eltern können ihre Kinder nicht mehr gesund er-nähren. Es gibt Menschen, die sich keinen Zahnersatz leisten können. Die Wahlen am 18. März waren zwar frei, aber sie waren auch weitgehend frei von Sachkenntnis. Kohls Vizekanzleramtschef Horst Teltschik hat Anfang Februar 1990 auf einer Pressekonferenz behauptet, dass die DDR in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sein würde. Was von westlichen Bänkern später als Bankrottgerücht bezeichnet wurde. Wenn man einer Bevölkerung einredet, dass ab sofort kein Geld mehr da ist, dann wählt sie nun mal die Kräfte des Kapitals.
Schäuble: Aber Frau Dahn, da haben wir schon unterschiedliche Erinnerungen. Ich war zufällig dabei. Die Entscheidung für eine Währungsunion haben wir am 20. März getroffen. Wenn das alles so wäre, wie Sie sagen, dann wäre für mich völlig unerklärlich, warum es die Massenausreisebewegung 1989 gegeben hat. Wieso sind eigentlich Hunderttausende zu Kohl bei seinem Besuch in Dresden an die Frauenkirche gekommen. Die hat doch nicht ein böser Kapitalist dahin manipuliert. Die Leute haben sehnsüchtig geguckt. Das war die Folge von 40 Jahren Unterdrückung!
Dahn: Der Runde Tisch hatte gefordert, dass westdeutsche Politiker sich aus dem Wahlkampf heraushalten. Daran hat sich niemand gehalten. Natürlich gab es dann eine große Neugier auf die kapitalistischen Versprechungen.
Schäuble: Wir haben ja keinen Kapitalismus, sondern wir haben soziale Marktwirtschaft.
Dahn: Darüber ließe sich auch streiten.
Wenn man Sie so reden hört Frau Dahn, dann hört es sich eher an wie: „Wir sind vom Regen in die Traufe gekommen.“
Dahn: Solche Verkürzungen stimmen nie. Es gibt beachtliche Verbes-serungen, auch Reste von Basisdemokratie. In der Kyritz-Ruppiner Heide hat gerade eine Bürgerbewegung nach 17jährigem Kampf erreicht, dass dort keine Bomben von der Bundeswehr abgeschmissen werden dürfen. Aber warum reden wir über Verlagerung, statt darüber, ob wir solche lästigen und teuren Tiefflüge überhaupt brauchen?
Schäuble: Wir wollen mal feststellen, dass es zu Zeiten der DDR eine Bürgerbewegung, die ein Bombodrom verhindert hätte, nicht hätte geben können.
Dahn:Am Ende haben wir mehr verhindert als ein Bombodrom.
Gab es zu viele falsche Versprechungen, Stichwort: Blühende Landschaften?
Schäuble: Wir haben unterschätzt, was ein so grundstürzender Wandel für die Menschen bedeutet. Vielleicht waren wir uns vor der Teilung fremder, als wir uns das vorher vorgestellt haben.
Dahn: Wir mussten viel Veränderung durchmachen, ja. Aber die Westdeutschen auch. Das gilt insbesondere für den Bereich, für den Sie zuständig sind, Herr
Schäuble: Musste das sein, so viel mehr Sicherheit und Überwachung? Das wurde in der Presse schon mit Stasi-Methoden verglichen.
Schäuble: Wir haben nicht mehr Sicherheit, wir haben mehr Freiheit!
Dahn: Ich habe manchmal den Ein-druck, hier läuft die Modernisierung von Notstandsgesetzen ohne Notstand.
Schäuble: Es tut mir furchtbar leid, aber an dem Punkt werde ich unfreundlich. Wissen Sie, wir haben die Leute aus den Gefängnissen in der DDR rausgekauft. Ich musste in Gesprächen mit den Machthabern, deren System ja offenbar so schön war, sagen: Ihr müsst jetzt nicht die Zahl der politischen Gefangenen erhöhen, weil ihr eine neue Devisenquelle braucht. Der Tarif für Häftlinge war 96000 D-Mark! Das war für die Menschen der einzige Weg, um aus der DDR herauszukommen. Und jetzt müssen wir darüber diskutieren, was ein freiheitlicher Rechtsstaat ist und was ein Unrechtsstaat war. Nun ist aber gut!
Dahn: Der Häftlingsfreikauf war nicht der einzige Weg, um aus der DDR raus zu kommen – das waren nur sechs Prozent der Leute, die übergesiedelt sind. Während die Mauer stand ist etwa eine halbe Million legal ausgereist.
Schäuble: Der Normaltarif war 8000 Mark. Für jeden Einzelnen hat der westdeutsche Steuerzahler bezahlt.
Dahn: Die Zahlen kannten wir nicht. Dennoch hat natürlich auch der ostdeutsche Staat in seine Bürger investiert – von der Krippe bis zum Diplom soll das 140000 Ostmark gekostet haben.
Schäuble: Hören Sie doch auf! Verkauft haben Sie Ihre Leute. Wie einst die deutschen Fürsten die Soldaten.
Dahn: Sicher, ein düsteres Kapitel. Aber zum Kaufen und Verkaufen gehören immer zwei. Wenn Polen in die USA ausgewandert sind, dann mussten sie auch dem polnischen Staat die Kosten ihrer Ausbildung zurückzahlen. In der Bundesrepublik müssen Studenten ihr Studium teilweise selbst finanzieren. In der DDR war das alles subventioniert.
Schäuble: In der DDR durfte man gar nicht studieren, wenn man nicht Mitglied der SED …
Dahn: … das ist doch lächerlich.
Schäuble: … oder wenigstens systemnahe war.
Dahn: Damit werden Sie vielen Ostakademikern nicht gerecht.
Wurde in der Wendezeit zu viel versprochen, Frau Dahn? Rührt ein Teil der Unzufriedenheit daher, dass zu hohe Erwartungshaltungen geweckt wurden?
Dahn: Ja sicher. Die Zeit der Wende war so intensiv, die Menschen waren auf einmal Subjekt der Geschichte. Das war so unglaublich, dass sie plötzlich bereit waren, an Wunder zu glauben.
Schäuble: Es war eine Revolution.
Dahn: Nein, wäre es eine Revolution gewesen, hätte etwas Neues herauskommen müssen. So aber sind wir nur eine schlechte Kopie des Westens geworden.
Die meisten DDR-Bürger wollten den Westen, möglichst schnell. Warum wurde nicht gesagt, dass dieser Wandel auch Schmerzen bereiten wird?
Schäuble: Die Bundesregierung musste darauf achten, dass der Prozess in geordneten Bahnen verlief. Der Fall der Mauer war schließlich eine der riskanteren Situationen in der Nachkriegsgeschichte. Wir wollten den Menschen eher Mut machen und nicht zu viel von den Problemen reden. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat mal gesagt, man hätte in jener Zeit eine Churchill-Rede halten müssen, über Blut, Schweiß und Tränen.
Dahn: Genau das hätte man tun müssen. Ich habe so eine Rede in meinem ersten Westbuch auch entworfen. Wir hatten so eine besonnene Wende hingelegt. Wir wären für die Wahrheit reif gewesen. Das ganze Tempo des Einheitsprozesses war zu hoch, man konnte und wollte Einwände dagegen gar nicht berücksichtigen
Schäuble: Ach, es gab schon genug Gegenstimmen. Die SPD hatte damals einen Kanzlerkandidaten, der ist jetzt Vorsitzender einer anderen Partei.
Oskar Lafontaine.
Schäuble: Der hatte die absonderliche Idee, dass man die Menschen aus der DDR auch wieder zurückschicken könne, nun, wo die Mauer gefallen sei. Der wollte tatsächlich die Reisefreiheit in Deutschland einschränken.
Dahn: Nein, er wollte nur das Be-grüßungsgeld abschaffen.
Schäuble: Entschuldigung, er wollte die Reisefreiheit in Deutschland abschaffen. Ich sehe schon, dass Sie Ihren Parteivorsitzenden verteidigen müssen.
Dahn: Ich bin in keiner Partei. Es war doch vielmehr Kalkül, dass die Leute vor der Wahl rübergelockt wurden. Mit Angeboten für Wohnungen und Arbeitsplätze.
Schäuble: Da wurde niemand rübergelockt, um Gottes Willen! Wir haben doch die Währungsunion gerade deshalb so schnell wie möglich eingeführt, damit sie eine absehbare Perspektive in der engeren Heimat bekommen.
Dahn: Aber gerade mit der Einfüh-rung am 1. Juli stiegen die Probleme und auch die Zahl der Übersiedler wieder.
Was hätte besser laufen können in den vergangenen 20 Jahren? Von Lothar de Maiziere stammt der Satz: Die Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden.
Schäuble: Den hat er von mir übernommen! Den habe ich in der Haushaltsdebatte schon kurz nach dem Mauerfall gesagt.
Ist ausreichend danach gehandelt worden?
Schäuble: Frau Dahn hat doch ge-sagt, dass die hohen Transferleistungen auch einen demütigenden Charakter hatten. Der Solidarpakt ist verabredet bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts. Und der Solidarbeitrag wird gezahlt…
…aber nicht mit besonderer Begeisterung.
Schäuble: Ach, Begeisterung muss in einer freiheitlichen Demokratie nicht eigens befohlen werden.
Haben die Westdeutschen zu wenig mit den Ostdeutschen geteilt?
Dahn: Unmittelbar nach der Wende stieg die Zahl der Einkommensmillionäre in der Bundesrepublik um 40 %, es war das beste Jahr in der Geschichte der Deutschen Bank. Diese Leute haben sicherlich wenig geteilt. Die normalen Bürger aber sind eher belastet worden, die haben die Einheit als Verlust erlebt. Und wenn man sich den Armutsatlas anguckt, sind immer noch die Umrisse der alten DDR zu sehen. Man hätte sich mehr am Gemeinwohl orientieren müssen. Die Grundidee des Kapitalismus ist falsch: Die Idee der Profitmaximierung. Es war kein Zufall, dass die soziale Marktwirtschaft parallel zum realsozialistischen Weltsystems entstanden ist – und dann auch mit ihr untergegangen ist. Wir werden diese soziale Marktwirtschaft nicht mehr hinbekommen, weil die Systemkonfrontation fehlt, die dem Westen eine soziale Legitimation abgefordert hat.
Wenn sich 22 Prozent der Ostdeutschen als „richtige Bundesbürger“ bezeichnen, dann…
Schäuble: … kommt es auf die Betonung an. Vielleicht fühlt sich Frau Dahn ja beleidigt, wenn man sie so anspricht.
Dahn: Wenn ich hier mit meinem Innenminister reden kann, dann bin ich doch eine richtige Bundesbürgerin.
64 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich als Menschen zweiter Klasse.
Dahn: Wundert Sie das? Im Osten ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch. Diese Zweitrangigkeit hat sowohl eine soziale als auch eine mentale Ebene. Es wäre schon wert gewesen, mehr als Ampel- und Sandmännchen zu übernehmen. Dann würden sich auch mehr Menschen akzeptiert fühlen.
Schäuble: Ich glaube, Ostdeutsche haben das Gefühl, dass ihnen vorgeworfen wird, in diesem System gelebt zu haben. Viele Westdeutsche haben sich für alles Mögliche interessiert, aber nicht für den Osten. Das wird von den Menschen dort auch ein Stückweit als Verletzung empfunden. Wir werden mit den Folgen von Teilung zu leben haben, solange wir Menschen haben, die mit der Teilung gelebt haben.
Viele Ostdeutsche fühlen sich im neuen Deutschland nur zu Besuch. 50 Prozent der Ostdeutschen sind der Meinung, es hätte mehr mit-genommen werden müssen.
Schäuble: Was denn?
Dahn: Genossenschaften, ein anderes Verkehrswesen, mehr Güterverkehr auf die Schiene, Jugendclubs, Polikliniken…
Schäuble: Sie wollen im Ernst sagen, wir sollten das DDR-Gesundheitssystem in der Bundesrepublik wieder einführen?
Dahn: Teile davon schon, ja.
Schäuble: Dann haben sie eine andere Erinnerung. Vielleicht meinen sie auch die grauenhaften Pflegeheime in der DDR. Und was die Jugendclubs angeht: Glauben Sie das unter den Bedingungen der Freiheit irgendein Jugendlicher in so einen Jugendclub gehen würde?
Dahn: Warum nicht, besser als auf der Straße lungern.
Wie soll die DDR in den Geschichtsbüchern auftauchen?
Dahn: Im Moment wird die Geschichte der Bundesrepublik meist als eine einzige Erfolgsgeschichte dargestellt und die der DDR als eine einzige Horrorgeschichte. Das kann es nicht gewesen sein, da wünschte ich mir sehr viel mehr Differenzierung. Das ist einer der Punkte, warum man sehr schwer miteinander reden kann.
Müsste der Satz auftauchen: Es war nicht alles schlecht…?
Schäuble: Das Entscheidende wird sein, dass wir in den Geschichtsbüchern von 45 bis 90 dies alles als eine gemeinsame Geschichte der Teilung darstellen – und nicht als getrennt.
Wann wird die innere Einheit vollendet sein?
Schäuble: Die innere Einheit ist vollendet, wenn wir nicht mehr danach fragen. Ansonsten gilt: Narben gehören zum Leben, sie prägen uns .. Verletzungen sind im-mer auch Erfahrungen. Für das Leben einer Nation gilt das auch.
Dahn: Für meine Generation und die darüber wird es keine innere Einheit mehr geben. Für die Jüngeren wird es noch ein, zwei weitere Generationen dauern.