erschienen in: der Freitag 40/15
Schocktherapie Die deutsche Einheit kann doch noch
eine Erfolgsgeschichte werden – wenn wir die verordnete Unmündigkeit überwinden
Die Einheit gilt als Erfolgsgeschichte. Nicht nur in den Medien, wohl auch bei der Mehrheit der Menschen in Ost und West und Nord und Süd. Für die Eliten war das Schönste an der friedlichen Revolution, dass sie nichts revolutioniert hat. Die angeblich „nachholende Modernisierung“ galt der Kopie eines Systems, das damals längst veraltet war. Dass der ebenfalls überlebte Realsozialismus friedlich abgedankt hat, war mehr als ein Erfolg. Allerdings verschwand mit ihm neben all seinen Unzulänglichkeiten auch die einzige Kraft, die den Kapitalismus allein durch ihre pure Existenz gezügelt hat.
Heute lebt das Prekariat landesweit, von der Bildung der öffentlichen Meinung ist es ausgeschlossen. Auch deshalb ist die Einheit im medialen Mainstream eine Erfolgsgeschichte. Und es ist ja zweifellos wunderbar, wie die Mauerneurosen auf beiden Seiten einer Art staatlicher Normalität Platz gemacht haben. Wie herausgeputzt im Osten die einst vorwiegend grauen Städte und Gemeinden sind und wie alle Anteil an den Neuerungen einer globalisierten und digitalisierten Welt haben. Wunderbar, wie junge Leute weltweit studieren, arbeiten, heiraten. Wie sie, wenn sie clever sind und möglichst von den Eltern finanziell unterstützt werden, in der Gründerszene Startup-Karrieren machen. Wer nicht zu den Verlierern gehört, dessen individueller Spielraum hat sich zweifellos enorm erweitert.
Die weit verbreitete Annahme, dass sich daher in der jüngeren Generation die innere Einheit längst vollzogen hat und Vorbehalte nur verbitterte Ältere pflegen, ist jedoch weit gefehlt. Die von Wissenschaftlern der Universitäten Leipzig und Dresden von 1987 bis heute geführte, repräsentative Studie zu den Meinungen von jetzt Enddreißigern in Sachsen, die von anderen Forschungen bestätigt wird, zeigt ein eher ernüchterndes Bild: Die allermeisten begrüßen die Einheit. Doch über 90 Prozent haben immer noch eine Doppelidentität. Sie fühlen sich halb als einstige DDR-Bürger und halb als Bundesbürger. Die absolute Mehrheit ist mit der Wirtschaftsordnung und der dieser untergeordneten Demokratie unzufrieden – weit mehr als im Westen. Bei den jungen Frauen sind das sogar fast zwei Drittel. Sie beklagen ein Defizit an Mitgestaltungsmöglichkeiten, haben kein Vertrauen zu etablierten Parteien und glauben nicht daran, dass das System die Zukunftsprobleme lösen kann.
Nicht nur Bürgerrechtler, auch viele Wissenschaftler und Intellektuelle aus dem Westen hatten seit Ende 1989 gewarnt. So der österreichische Futurologe Robert Jungk: „Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“ Inzwischen haben wir die Bescherung. Was anfangs den Euphemismus Revolution verdiente, war der ansatzweise Wandel zu einer Demokratie, die den Bürgern viel mehr Möglichkeiten des Mitdenkens und Mitentwerfens bot als jede andere. „Das könnte ein Modell für die Welt werden“, schwärmte Jungk. Der Demokratisierungsdruck begann durch Forderungen aller Art auf den Westen überzugreifen.
Aufgekaufte Revolution
Nur 13 Tage nach Maueröffnung legten Vertreter des Zentralbankrates ein Konzept für die Einführung der D-Mark in der DDR vor. Das war der keine Kosten scheuende Plan zum Aufkauf der Revolution. Er ermöglichte eine Annexion auf Wunsch der Annektierten. Eine Mischung aus angestautem Frust über Machenschaften in der DDR, aus neuen Gerüchten und Desinformationen hatte dazu beigetragen, dass die Leute die Faxen satthatten. Sie ließen Hammer und Sichel fallen, die Gärten sollten nun andere zum Blühen bringen.
Nachdem bei den März-Wahlen 1990 die revolutionären Kräfte haushoch verloren hatten, sagte Bärbel Bohley: „Wenn man sich treu ist in seinen Ansichten, gehört man jetzt nicht mehr zu denen, die gehört werden. Die Wendehälse wollen beweisen, wie sie sich gewendet haben. Es gibt bei vielen die Erwartung, die Probleme durch Anschluss zu lösen. Da sind wieder nur Mauern. Es wird nicht ins Offene gedacht. Die Bürgerbewegungen sind eine Anfechtung für die Parlamente, denn die Demokratie im Westen ist nur eine andere Spielart unserer früheren Unmündigkeit.“
Anschluss heißt auch das Buch des italienischen Wirtschaftswissenschaftlers Vladimiro Giacché, in dem er das neoliberale Modell der deutschen Vereinigung als Generalprobe für die EU erkennt: überstürzte Währungsunion, Privatisierung der Gewinne und Vergesellschaftung der Verluste. Unser viel bewunderter Wohlstand erklärt sich nicht nur aus deutscher Wertarbeit. Er erwächst leider auch aus den unguten Methoden des Staates und seiner Lobbyisten, zu Reichtum zu kommen. Deutschland war clever genug, sich auf Kosten der anderen ganz legal zum Gewinner der Finanzkrise und des Euro zu machen. Die Rettungsschirme haben Banken gerettet, die nun wieder flüssig genug sind, unser Leben auf Pump zu finanzieren. Der durch Lohndumping erreichte Exportüberschuss hat nicht konkurrenzfähige, ärmere Länder weiter verarmen lassen. Die sogenannten Hilfspakete waren ein gutes Geschäft. Im weltweiten Waffenexport, auch in Krisengebiete, schmückt sich Deutschland mit der Bronzemedaille. In Entwicklungsländern beteiligen sich auch deutsche Unternehmen an empörenden, neokolonialen Praktiken. Unterm Strich haben wir gut verdient.
Wir hätten also Grund, auf unseren inzwischen gemeinsamen Reichtum nicht nur stolz zu sein. Doch Millionen Flüchtlinge wollen nichts sehnlicher, als im Westen an dem Wohlstand teilzuhaben, dessen fragwürdige Entstehung ihr Elend erst mitverursacht hat. Wie sollte man sich da nicht überlegen fühlen? Reich sein ist beautiful. Deutschland ist reich genug, die für Generationen festgeschriebenen Folgen der von Treuhand und Rückgabe-Dogmatismus ausgelöste Schocktherapie mit Geld abzufedern. Ohne die jährlichen Transfers in zweistelliger Milliardenhöhe vom Bund und nicht zuletzt von der EU wären die neuen Bundesländer auch ein Vierteljahrhundert nach der Einheit nicht lebensfähig. Zwei Billionen Euro sind bereits geflossen.
Selbst wenn in Ostdeutschland dennoch auch nach 25 Jahren nicht gleiche Löhne und Renten gezahlt werden, die Arbeitszeit länger und die Urlaube kürzer sind, wenn die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch und dafür die Vermögen halb so groß sind, so ist die Teilhabe am Konsum doch noch beautiful genug.
Die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ zu wahren, das ist laut Art. 106 Verfassungsauftrag. Um die Lücke zu schließen, wären nach Schätzung des Top-Wirtschaftsberaters Roland Berger in den nächsten 15 Jahren in Ostdeutschland Investitionen von einer weiteren Billion Euro nötig. Die sind aber nicht vorgesehen.
Zweitautofahren ist heilbar
Insofern ist es schon ein Witz, dass weder die ärmeren Bundesländer noch gar die reicheren auf den naheliegenden Gedanken kommen: Die einzig realistische Chance, den Auftrag zu erfüllen, besteht darin, sich auf niederem Niveau anzugleichen. Und dabei Reichtum an Zeit, Bildung, Freundschaften, Kunst und Natur zu mehren. Gemessen daran, wie man europa- und weltweit lebt, wäre das durchaus zumutbar. Zweitautofahren ist heilbar. Theoretisch akzeptieren wir es doch seit Jahrzehnten: Um sozialen und ökologischen Frieden zu schaffen, müssen die Wohlhabenden abgeben. Jetzt erteilen uns die Flüchtlinge die praktische Lektion. Es war eine Illusion zu glauben, ein kleiner Teil der Welt könne auf Dauer in Frieden und Wohlstand leben, während der Großteil in Armut und Bürgerkriegen versinkt. Vielleicht ist die beeindruckende Willkommenskultur hierzulande ein Zeichen dafür, dass wir uns dieses Irrtums und unserer Mitverantwortung für ihn bewusst werden.
Wir müssen teilen wollen. Mit den Griechen und Spaniern und Portugiesen. Der Osten ist nah, aber der Nahe Osten ist gerade noch näher. Wir müssen teilen wollen mit den Menschen aus den verwüsteten arabischen Städten und mit denen aus dem ausgeplünderten Afrika. Es geht nicht mehr nur um die Einheit Deutschlands, es geht um die des zerstrittenen Europas und die der uneinen Welt. Und das ist gut so – endlich.