Von falschem Sozialismus und richtiger Vormundschaft
Die Konfusion darüber, ob Verstaatlichung schon Sozialismus sei, hat Tradition. Und seit der Krise mal wieder Konjunktur. Hierzulande gelten die LINKEN als nicht regierungsfähig weil sie Banken verstaatlichen wollen, dabei hat die Regierung vorgemacht, wie das geht – nicht basta sondern ratz batz.
Der Untersuchungsausschuss zu Fannie Mae, der größten Pleitebank der Welt, stellte unlängst die faszinierende Frage: Wird eine private Bank, die ihren Aktionären zu Gewinn verpflichtet ist, gleichzeitig aber den durch staatliche Förderung legitimierten politischen Auftrag hat, die Amerikaner zu einem Volk von Hausbesitzern zu machen, in diesem Interessenkonflikt zerrissen? Antwort: Ja, wird sie. Gereizt und nervös werden die alten Karten von Eigentum, Verfügung und Umverteilung neu gemischt. Obama muss sich allein deshalb als Marxist beschimpften lassen, weil er erwogen hatte, neben all den privaten auch eine staatliche Gesundheitsversicherung einzuführen. Weshalb sein Blatt nicht zum Spiel kam.
Dabei hat Marx den Staat nur als „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisie verwaltet“ gesehen und Engels spottete über den „falschen Sozialismus“, der aufgetreten sei, „seit Bismarck sich aufs Verstaatlichen geworfen“. Wäre allerdings die Verstaatlichung des Tabaks Sozialismus, so zählten Napoleon und Metternich zu dessen Gründern. Und dann wären „die königliche Porzellanmanufaktur und sogar der Kompanieschneider beim Militär sozialistische Einrichtungen“.
Was aber verdient diese Bezeichnung? Der Staat jedenfalls nicht. Engels geißelt ihn als „kapitalistische Maschine“, als „ideellen Gesamtkapitalisten“, in dem das Kapitalverhältnis nicht aufgehoben sondern auf die Spitze ge-trieben wird.
Staatseigentum bleibt im Kapitalismus kapitalistisches Eigentum. Es ist oft deshalb scheinbar unrentabel, weil es als „entwertetes Kapital“ nicht auf einer gleichen Profitrate besteht und sich stattdessen an der Umverteilung im Monopolinteresse beteiligt. Der Staat garantiert, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.
Wie das funktioniert? Eine Analyse der österreichischen Alfred Klahr Gesellschaft hat ergeben, dass von 1970-1982, in der sozialdemokratischen Ära von Bruno Kreisky, verstaatlichte Unternehmen etwa 350 Milliarden Schilling an Privatfirmen durchgereicht haben: durch erhöhte Preise beim Materialkauf, durch Rohstofflieferungen zu billigeren Preisen als auf dem Weltmarkt, durch vergünstigte Tarife für Energie und Transport oder Investitionen, die zum größeren Teil der Privatwirtschaft zugute kamen.
Was legitimiert den bürgerlichen Staat eigentlich, mit den von der Allge-meinheit geschaffenen Werten das Allgemeinwohl so zu vernachlässigen? Wer, zum Teufel, sind eigentlich die Leute, denen Staatseigentum gehört? Absolutistische Potentialen gaben noch unumwunden zu: Der Staat – das bin ich. De jure kann nur natürlichen oder juristischen Personen etwas gehören. Früher oder später musste es also vollbracht werden – in dem Fall eher früher: 1837 hat der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht die Fiktion des Staates als juristische Person postuliert. Durch diese Idee wurde das Privateigentum des Königs von dem des Staates abgegrenzt, was einerseits sinnvoll war, aber andererseits den Hofstaat zum wirtschaftlichen Vormund über seine Untertanen machte. Auch wenn das Dogma von Anfang an umstritten war, gilt es bis heute als Grund- und Eckstein bürgerlichen Staatsrechts.
Linke werden daran rühren müssen, wenn sie ernsthaft über Vergesell-schaftung nachdenken wollen. Ehrenwerte Leute, wie der jüdische Staatsrechtler Hermann Heller, der einst als Kontrahent von Carl Schmitt den Begriff des sozialen Rechtsstaates geprägt hat, haben es lange zuvor getan. Zuletzt der Jurist Henning Uhlenbrock in seiner Dissertation von 2000: Er sieht in der Doktrin vom Staat als juristischer Person ein Relikt der vom monarchischen Prinzip geprägten Staatsrechtslehre. Sie habe sich den fortschreitenden Verfassungsentwicklungen nicht angepasst. Unter Geltung des Grundgesetzes, das in Art. 20 die Volkssouveränität festschreibt, „kann diese Lehre nur sehr eingeschränkt aufrechterhalten werden“. Denn wenn der vom Souverän abgekoppelte Staat sich zum Subjekt von Hoheitsrechten erklärt, wird das Volk auf ein bloßes Wahlorgan reduziert. Und so fühlt es sich ja auch. Nicht umsonst wird das Haushaltsrecht als das „Königsrecht“ des deutschen Bundestages betrachtet – davon wird er nichts abgeben wollen.
In der DDR gab es kein Staatseigentum. Das war von der Verfassung nicht vorgesehen. Es gab kein staatliches Vermögen, das nicht Volkseigentum war. Im Interesse des Volkes sollte es vom Staat verwaltet werden. Immer wieder wird behauptet, das Volkseigentum sei nur eine ideologisch verbrämte Bezeichnung für Staatseigentum gewesen. Nein, der Staat durfte ganz entscheidende Dinge nicht, die er heute darf. Dem Staat war es nicht erlaubt, Volkseigentum zu privatisieren. Er durfte es weder mit Schulden belasten, noch pfänden. Das hätte einer Änderung der Verfassung bedurft, die, wie immer man dazu steht, 1968 in einem Volksentscheid angenommen worden war. Es handelte sich also erstmals um eine ökonomische Vergesellschaftung, der aber die politische fehlte. Sträflich wurde ignoriert, was sogar im offiziellen Verfassungskommentar vorausge-setzt wurde: „Die Mitwirkung an der Leitung der Wirtschaft durch alle Werktätigen“. Und weiter: „Die sozialistische Demokratie ist eine notwendige Bedingung für die schöpferische Nutzung und Mehrung des sozialistischen Eigentums.“
Die eher feudalen Entscheidungsstrukturen sollte der demokratische Aufbruch von 1989 beseitigen; der Bürger sollte aufgewertet werden, nicht der Staat. Was das Kapital aber ganz anders sah. Seine Vertreter bestanden schon im 1. Staatsvertrag vom Mai 1990 darauf, dass die Volkskammer das Pfändungs-, Belastungs- und Veräußerungsverbot aufhebt und so das unvollkommene sozialistische Eigentum in vollkommenes kapitalistisches Staatseigentum verwandelt. Was diese mit Gesetz vom 28.6.90 auch brav tat. Der erste Akt der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer war die Enteignung des Volkes. Nach Möglichkeit sollte für jeden Bürger „ein verbrieftes Anteilrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt werden“. Eine Beruhigungspille, die sich als Placebo herausstellte.
Der SPD-Politiker Rudolf Dressler sprach von einer „schlimmen Unterlassung“: „ Denn nach der staatlichen Einheit bestand die klare, historisch einmalige Chance, formales Volksvermögen in breit gestreutes Eigentum an Produktivkapital umzuwandeln, die Ostdeutschen zu Miteigentümern sanierter Unternehmen zu machen.“
Als ich nach der Wende verstehen wollte, weshalb die Ostdeutschen ihr Eigentum so wenig verteidigt haben, ließ ich mir vom damaligen Präsidenten des DIW, dem Wirtschaftswissenschaftler Lutz Hoffmann, bestätigen: “Der Staat ist immer nur wechselnder Verwalter des dem Volke Gehörenden. Es gibt keinen ´Eigentümer Staat´. Alles, was sich volkseigen nannte, war tatsächlich das Eigentum der Bürger der DDR.“
Zwar war die Verfügungsgewalt durch die zentralistische Planung rigoros eingeschränkt, weshalb in der Produktion kein Eigentümerbewusstsein entstehen und die Eigentümerfunktion de facto nicht wahrgenommen werden konnte. Aber das änderte de jure nichts daran, wem alles gehörte. Im Glauben, es hätte ja im Realsozialismus nur Staatseigentum gegeben, fiel es den frustrierten Bürgern nicht schwer, dieses Eigentum nun einem anderen, für ökonomisch fähiger gehaltenen Staat zu überlassen. Die Mehrheit der Ostdeutschen hat die eigenen staatlichen Verfüger zum Teufel gejagt – allerdings nicht, um ihr Eigentum endlich selbst in die Hand zu nehmen, was tatsächlich revolutionär gewesen wäre, sondern um es ganz aus der Hand zu geben. Die Rückkehr zum Staatseigentum war das Restaurative an der friedlichen Revolution. So etwas war natürlich bei Marx nicht vorgesehen. Da war der Staat zum Absterben bestimmt, was für eine „juristische Person“ eine besonders unerquickliche Perspektive ist.
Auch heute ist der Begriff „Staatseigentum“ für Bürokratien hilfreich, denn er suggeriert dem Schöpfer aller Werte, dass er sich da herauszuhalten hat, dass er die Verfügung nicht nur abgetreten, sondern nie eine besessen hat. In konkreten Entscheidungen ist er der Mitsprache enthoben. Nur durch solche Konstruktion ist es möglich, den Mehrheitswillen zu ignorieren: Obwohl laut Forsa 84 Prozent der Deutschen gegen Privatisierungen sind, hat ihr Staat von 1991 bis 2007 zwei Drittel seiner großen Beteiligungen verscherbelt. Ganz nach dem Dogma des Washington Consensus sollte dies ein Beitrag zur Modernisierung, Entbürokratisierung und finanziellen Stärkung „unseres Staatswesens“ sein. Das unsrige daran ist nun, nach griechischer Choreografie zum Spartanz aufgefordert zu werden.
Sind diese ärgerlichen Vollmachten des Staates ein Konstruktionsfehler bürgerlicher Demokratie? Oder sind sie Absicht, um die eigentliche Macht bei der politischen Klasse zu halten und es eben nicht zur verfassungsmäßigen Volksherrschaft kommen zu lassen? Wie soll ein Volk herrschen, das kein Rechtssubjekt sein darf, weil es angeblich nichts vom Wirtschaften versteht?
Dabei weiß man es doch längst besser. Jüngst konnte ich mich sogar in den USA, im angesehenen Lafayette College in Pennsylvania, bei einem Vortrag von Elinor Ostrom, wieder davon überzeugen. Sie hatte 2009 als erste Frau den Nobelpreis für Wirtschaft bekommen. Ihre weltweite Analyse hat ergeben, dass Gemeineigentum lokaler Kooperationen effektiver verwaltet werden kann als privates oder staatliches Eigentum, wenn bestimmte Regeln der Selbstorganisation beachtet werden.
Meine Überlegungen sollen keinesfalls als Plädoyer für einen schwachen Staat verstanden werden – sondern für einen anderen. Er und seine Kommunen können in Rechtsträgerschaft, was im bürgerlichen Recht bisher nicht vorgesehen ist, große Teile des Gemeineigentums verwalten, wenn der Souverän die Kontrolle und das letzte Wort behält. (Man lese nach, wie sich Otto Bauer vor fast hundert Jahren einen paritätisch zusammengesetzten Verwaltungsrat als oberste wirtschaftliche Instanz vorgestellt hat.) Volkseigentum plus Demokratie war 1989 die bürgerrechtliche Formel für Vergesellschaftung. Doch nach dem Desaster des Realsozialismus wagt sich niemand mehr daran zu erinnern. Selbst im Programmentwurf der LINKEN wird das Gemeineigentum je nach Belieben als gesellschaftliches, öffentliches oder staatliches bezeichnet, ohne dass Unterschiede erkennbar wären.
Täten linke Parteien nicht gut daran, solange der Staat nur Handlanger und Befehlsempfänger der Wirtschaft ist, „Staatseigentum“ als anzustre-bendes Ziel ganz zu streichen?